Zwei Brüder.
_____
ZWEI Männer, zwei Brüder wanderten zusammen auf einer steinigen Landstraße. Die flammenden Strahlen der Sonne blendeten ihre Augen und weißten den Staub der Erde. Der eine Mann war klein und zarten Wuchses. Er trug eine große und schwere Last auf den Schultern. Sein Gang war fest und sicher; denn er stützte sich auf einen Wanderstab. Er trug sein Haupt hoch, und sein Antlitz leuchtete vor Freude. Der andere war groß und stark. Auf seinen breiten Schultern trug er eine kleine Last. Sein Gang war schwankend und unsicher; denn er stützte sich nicht auf einen Wanderstab. Sein Haupt war gebeugt, er seufzte und stöhnte unter dem Gewicht der Last, obwohl die Last gering war. Der erste Bruder versuchte ihn zu ermuntern, und er sprach: "Der Weg zu unseres Vaters Haus ist lang und mühevoll; mein Bruder, wie wird es dir ergehen, wenn du am Anfang des Weges unter deiner Last stöhnst und klagst!" Der zweite antwortete und verfluchte die Länge des Weges und die Steine der Straße, die seine Füße verletzten. Der erste Bruder wurde traurig, und sie wanderten schweigend nebeneinander her. - Große Volksscharen kamen von den Seitenwegen auf die Straße gezogen, auf der die Brüder einherwanderten. Einige kamen in Haufen gewandert, andere wanderten paarweise viele wanderten allein. Einige der Leute wanderten rasch und sicher die Straße entlang, aber alle trugen sie Lasten auf den Schultern. Einige trugen schwere und große, andere trugen kleine und leichte Lasten. Diejenigen, die sich auf einen Wanderstab stützten, wanderten schnell an den Brüdern vorbei, winkten ihnen zu und riefen: "Sehet, wir gehen zu unseres Vaters Haus, wir werden grüßen und sagen: ihr kommt bald nach." Und sie verschwanden in der Ferne. Viele arme Geschöpfe kamen schwankend des Weges, sie stöhnten unter dem Gewicht der Lasten; sie klagten über die brennenden Strahlen der Sonne, über den Durst, der sie plagte. Der erste Bruder trat zu ihnen und redete gütig und liebevoll. Er sah, daß sie keine Becher hatten, um sie aus dem Brunnen an der Straße mit Wasser zu füllen. Er zog seinen Becher vom Gürtel, füllte ihn mit Wasser und gab ihnen zu trinken. Er sah, daß sie keinen Stab hatten, um sich darauf zu stützen; er gab ihnen den seinigen, auf daß sie nicht stürzten. Er sah, daß sie unter ihren Lasten schwankten, er nahm die Lasten, legte sie sich auf die Schultern, und er wanderte fest und ruhig weiter, und alle verwunderten sich sehr. Und sie redeten untereinander darüber und sprachen: "Sehet, dieser Mann gab uns zu trinken, er lieh uns seinen Stab, er nahm unsere Lasten und legte sie auf seine eigene schwere Last - und doch wandert er fest und ruhig des Weges, wie ist das möglich?" Aber er antwortete ihnen und sprach: "Ich wandere zu meines Vaters Haus; die Hoffnung, das liebevolle Antlitz meines Vaters zu sehen, erleichtert mir meine Lasten; die liebevollen Gedanken meines Vaters verkürzen mir die Länge des Weges." Und er wandte sich und sprach zu den Scharen: "Folget mir, alle ihr, die ihr unter der Mühe und Not des Weges schwankt und stöhnt, ich will euch in das Reich meines Vaters führen; denn Er hat viele Wohnungen, und ich will Ihn bitten, euch eine Stätte zu bereiten, wo ihr nach den Muhen der Wanderung ruhen könnt." Und sie freuten sich alle sehr, und sie folgten ihm alle. Als der Sohn zum Reich des Vaters kam, schlugen die Diener die mächtigen Flügel des Tores auf, und sie jubelten, als sie den Sohn, von den Scharen gefolgt, durch das Tor wandern sahen. Und der Sohn ging zu der Wohnung seines Vaters, legte seine Lasten zu Seinen Füßen nieder, küßte den Saum Seines Gewandes und sprach: "Siehe, Vater, all diese armen Geschöpfe bringe ich in dein Haus. Ich sah, daß sie unter ihren Lasten schwankten, ich gab ihnen meinen Stab, auf daß sie nicht stürzten. Ich sah, daß sie dürsteten, ich gab ihnen meinen Becher, gefüllt mit Wasser vom Brunnen an der Straße. Ich hörte, daß sie stöhnten, ich nahm ihre Lasten, und ich trug die Lasten für sie. Vater, ich habe ihnen versprochen, daß du ihnen eine Stätte bereiten würdest, wo sie nach der Mühe und Not der Wanderung ruhen könnten." Der Vater sah den Sohn gütig an und antwortete: "Große Freude hast du meinem Vaterherzen getan." Und Er wandte sich an die Scharen und sprach: "Seid alle willkommen in meinem Reich; denn wisset: alle seid ihr meine Kinder; vor dem Herzen des Vaters seid ihr alle gleich - hoch und niedrig, arm und reich. Seid alle willlkommen; denn wisset: ich, euer Vater, habe euch auf die Wanderung gesandt, von der ihr nun zurückgekehrt seid. Meine Diener werden euch in die Wohnungen führen, die für die Meinigen bereitet sind; dort sollt ihr, in Einsamkeit, über die Wanderung eures Lebens nachdenken. Wenn euch alles klar vor Augen steht, so sollt ihr mir, eurem Vater, auf meine Fragen antworten, mir antworten, weshalb die Last, die ich euch zu tragen gab, euch zu Boden drückte! Mir antworten, weshalb die Steine der Straße eure Füße verletzten und die Strahlen der Sonne eure Augen blendeten! Einigen von euch gab ich eine große Last zu tragen und kleine Taten auszuführen; anderen von euch gab ich kleine Lasten zu tragen und große Taten auszuführen. Viele von euch sind gekommen, ehe ich gerufen habe, viele von euch sind gekommen, lange nachdem ich gerufen habe. - Meine Diener führen euch nun in eure Wohnungen. Wenn alles durchdacht ist, alles beantwortet ist, so werdet ihr Sehend, so sollen die Tränen der Reue euch reinwaschen, und so werde ich, euer Vater, euch das weiße Gewand geben, das die Vergebung der Sünden ist." Und Er erhob die Hände und sprach Seinen Segen über ihre gebeugten Häupter.
Und die Diener führten sie fort. Aber der Vater wandte sich an den Sohn und sprach: "Mein Sohn, viele arme Geschöpfe hast du in mein Haus gebracht, aber einer fehlt. Meine Augen haben gesucht und gesucht, aber sie fanden ihn nicht! Mein Sohn, antworte deinem Vater und sprich: wo ist der Bruder, mit dem du zu Anfang des Weges zusammen gingst?"
Aber der Sohn antwortete Ihm und sprach: "Vater, mein Bruder kommt bald. Mein Bruder war groß und stark, und seine Last war klein, er bedurfte meiner Hilfe nicht." Da verfinsterte sich das Antlitz des Vaters, und Er sprach: "Mein Sohn, als dein Bruder dir nicht länger folgte, wandtest du dich da und riefst? Oder wie weißt du, daß er deiner Hilfe nicht bedurfte? Mein Sohn, sahst du nicht, daß dein Bruder schwankte, sahst du nicht, daß die Steine der Straße seine Füße verletzten? Sahst du nicht, daß die flammenden Strahlen der Sonne seine Augen blendeten? Hörtest du nicht, daß er unter dem Gewicht seiner Last stöhnte und klagte?" Da beugte der Sohn beschämt das Haupt, und er antwortete und sprach: "Vater, als mein Bruder mir nicht länger folgte, kehrte ich nicht um und rief ihn nicht. Vater, ich sehe, daß ich großes Unrecht getan habe; Vater, ich vergaß meinen Bruder!" Da sah der Vater den Sohn traurig an und sprach: "Nimm deinen Wanderstab und gehe zurück; suche, bis du den Bruder findest, der dir nicht folgte!" Der Sohn beugte sich, und er sprach: "Vater, ich wandere hinaus und suche meinen Bruder - ich kehre nicht zurück, ehe ich ihn mit mir führe." Er nahm seinen Becher und füllte ihn mit Wasser aus dem Brunnen des Hauses, er nahm seinen Stab, und er wanderte die Straße zurück, die er kürzlich verlassen hatte. Er trug keine Last auf den Schultern, aber der Schmerz des Vaters lastete schwer auf seinem Herzen. Er spähte und spähte, sein Auge suchte und suchte - aber er fand seinen Bruder nicht. Mehr als die Hälfte der Straße wanderte er zurück. Da sah er seinen Bruder! Er lag am Rande der Straße. Die Last war ihm von den Schultern gefallen. Die flammenden Strahlen der Sonne hatten sein Auge geblendet. Die scharfen Steine der Straße hatten seine Füße verletzt. Sein Gewand war zerrissen und zerfetzt, sein Körper von Wunden bedeckt und vom Schlamm und Kot der Straße beschmutzt. Der Bruder kniete an seiner Seite nieder und gab ihm von dem Wasser aus dem Brunnen des Hauses zu trinken; und er hob ihn auf, er nahm seinen Gürtel, band ihn ihm um die Lenden, auf daß das zerrissene Gewand nicht zu Boden fiele. Er gab ihm seinen Stab, um sich darauf zu stützen, er nahm seine Last und legte sie sich auf die eigenen Schultern. Er legte liebevoll den Arm um ihn und leitete ihn des Weges zum Hause des Vaters. Als die Diener die Brüder kommen sahen, schlugen sie die mächtigen Flügel des Tores auf, und sie beugten sich schweigend vor ihnen beiden. Und die Brüder wanderten zur Wohnung ihres Vaters, und der Sohn führte den gefundenen Bruder zum Vater. Der Vater breitete die Arme aus und drückte den Wiedergefundenen an Sein Herz und sprach: "Mein Sohn, mein Sohn, weshalb ließest du deinen Vater so lange warten? Hörtest du meine rufende Stimme nicht! - Mein Sohn, der Geist, den ich dir gab, war stark und schön - aber sieh, wie du deinen Körper beschmutzt hast! - Meine Diener werden dich nun in die Wohnung führen, die lange für dich bereit gewesen ist, dort sollst du, in Einsamkeit, über die lange Wanderung deines Lebens nachdenken. Wenn alles durchdacht ist, wenn alles dir klar vor Augen steht, so sollst du mir, deinem Vater, antworten, weshalb du die Tat nicht ausführtest, die du mir auszuführen gelobtest! Mir antworten, weshalb du die Steine der Straße dir die Füße verletzen ließest; und du sollst mir antworten, weshalb du unter der kleinen Last, die ich dir zu tragen gab, stürztest, weshalb der Staub und der Kot der Straße deinen Körper befleckten und dein Gewand befleckten! Und du sollst mir sagen, weshalb du meiner rufenden Stimme nicht antwortetest, weshalb du deinen Vater so lange warten ließest. Wenn du geantwortet hast, so sollen deine blinden Augen sehend werden, so sollen die Tränen der Reue den Schmutz von deinem Körper waschen, und so werde ich, dein Vater, dir das weiße Gewand geben, das die Vergebung der Sünden ist." Und Er legte die Hände auf das gebeugte Haupt des Sohnes, und die Diener kamen und führten ihn in die Wohnung, die lange leergestanden hatte. Aber der Vater wandte sich an den anderen Sohn, drückte ihm liebevoll die Hand und sprach:
"Mein Sohn, große Freude hast du meinem Herzen getan; denn wisse: keine Freude ist größer als die, die das Herz des Vaters fühlt, wenn der Sohn, der gestürzte, zum himmlischen Heim zurückgeleitet wird. Ja, wisse: keine Freude ist größer als die, die der Vater fühlt, wenn der Sohn, den er umgekommen glaubte, ins himmlische Heim zurückkehrt! Mein Sohn, dir ward viel gegeben, dir soll mehr gegeben werden gehe in die Wohnung, die dir mein Vaterherz bereitet hat, und empfange dort den Lohn, der dich erwartet."
|
_____________
Das obige Gleichnis veranschaulicht vor allem das Verhältnis zwischen Jesus von Nazareth und Joseph von Arimathia während des Erdenlebens, in dem sie, ihrem Gelöbnis an Gott zufolge, einander hätten stützen und ergänzen sollen. Da Jesus nach seinem Gespräch mit Joseph *1 nicht versuchte, ihn an sich zu ziehen, sondern seiner Wege ging, ohne sich um ihn zu kümmern, trifft der Vorwurf des Vaters, im Gleichnis, Jesus zu Recht, und wie der Sohn im Gleichnis zurückwandern mußte, um den Bruder zu finden, so mußte Jesus (der älteste der Jüngsten) Joseph von Arimathia suchen gehen, als dessen Geist beim Tod des Körpers nicht in die himmlischen Wohnungen zurückkehrte. Durch den Mord an seinem alten Diener, durch die Angst, seine Reichtümer zu verlieren und sein Ansehen unter den Menschen zu verlieren, sowie durch das Verschweigen seines Anteils an dem Verschwinden des Körpers Jesu brachte sich Joseph selbst in die Gewalt der Finsternis. Durch diese Sündenschuld ward sein Geist gebunden, nach dem Tod des Körpers ein langes erdgebundenes Dasein zu führen, bis ihn der älteste der Jüngsten, nach jahrhundertelanger Suche, in tiefe geistige Finsternis herabgesunken fand. Auch im Hinblick auf die gesamte Menschheit hat das Gleichnis Gültigkeit, da ein jeder, der in seinem irdischen Leben einen Verwandten oder Freund unter den Bürden zusammenbrechen sieht, ohne sich darum zu kümmern und ohne eine helfende Hand auszustrecken, nach Beendigung seines Erdenlebens, unweigerlich, diese Frage von Gott gestellt bekommen wird: wo ist der Bruder (oder die Schwester), mit dem (der) du des Weges gingst? Das gleiche gilt für diejenigen Menschen, die vor der Inkarnation versprachen, einander in der einen oder anderen besonders schwierigen Mission zu stützen, um ein um so besseres Ergebnis zu erzielen. Obwohl nun davon nicht mehr die Rede sein kann, auf dem astralen Gegenstück der Erde oder in der Höllensphäre nach denen zu suchen, die unter den Bürden des Erdenlebens stürzen, kann die Buße, die gegebenenfalls in Zukunft einem solchen säumigen Menschen auferlegt werden wird, schwierig genug auszuführen sein, da die Buße denjenigen, der seine Pflicht oder sein Versprechen versäumt hat, vielleicht für lange Zeiten hindern wird, selbst in geistiger Hinsicht voranzuschreiten. Deshalb: vergiß niemals deinen Verwandten oder deinen Freund, und überhöre niemals die innere Stimme, die dich auffordert, deine - geistige oder materielle - Hilfe in solchen Fällen zu leisten, in denen deine Hilfe von Wert sein kann, sei es einem Mitmenschen, der unter seinen Bürden zu stürzen droht, oder aber, wo du durch deine Autorität, dein Ansehen, dein Wort einem Bruder aus einer schwierigen Lage helfen oder ihm im Kampf für Wahrheit und Recht Beistand leisten kannst! Die übrige Symbolik des Gleichnisses kann ein jeder nach seinen eigenen Gedanken und eigenen Gefühlen deuten *1.
In other respects the symbolism of the parable can be interpreted according to one's own thoughts and feelings.
|